Was wir vom Gesundheitssystem in Dänemark lernen können
«Warum in der Nähe bleiben? Sieh, das Gute liegt so fern.» Ja, wir haben Goethes Sprichwort umgedreht. Und ja, meistens liegt das Gute wirklich nah. Doch auch im Gesundheitswesen hat sich vieles verkehrt. Aus medizinischen Fachkräften wurden administrative und aus Patienten Teile von unzähligen Statistiken. Daher lohnt es sich, für einen Augenblick aus Zahlen und Gewinnorientierung auszubrechen. Den Kopf etwas zu kühlen, die Betriebsblindheit runterzufahren und weiter zu denken. Räumlich und innerlich. Auf in den Norden nach Dänemark! Bewundernswertes und Kritisches hier im Fokus.
«Wir befinden uns im Jahre 2024 n. Chr. Das Gesundheitswesen in ganz Europa ist von Fachkräftemangel, Gewinnorientierung und Datenwahn besetzt... Ganz Europa? Nein! Ein von unbeugsamen medizinischen Fachkräften bevölkertes Land hört nicht auf, das Gesundheitswesen neu zu organisieren.» Asterix und Obelix lassen grüssen.
Wie oft denken wir, dass etwas nicht anders möglich ist. Wir haben einen gewissen Tunnelblick und geben es auf, nach neuen Lösungen zu suchen. Dass es tatsächlich anders geht, zeigt der Artikel «Erholte Ärzte und Chemo to go: Was die Schweiz von Dänemark lernen kann» im Tagesanzeiger.ch vom 19. Januar 2024.
Dänemark: Dies ist anders im Gesundheitswesen
«In Dänemark gilt für Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende die 37-Stunden-Woche und die medizinische Behandlung ist kostenlos, eine Grundversicherung brauchen die Däninnen und Dänen nicht. Ausserdem pflügt das Land seine Spitallandschaft völlig um», schreibt der Tagesanzeiger. Zu schön, um wahr zu sein?
Der im Artikel porträtierte Schweizer Chirurg Christoph Tschuor hat vor gut zwei Jahren eine Stelle in Dänemark angenommen. Er ist spezialisiert auf Leber- und Pankreaschirurgie sowie Lebertransplantationen und hatte auch Stellenangebote in der Schweiz. Dort hätte er mindestens 50 Prozent mehr verdient, allerdings auch viel mehr gearbeitet.
Doch da sind diese Vorteile, die wir in der Schweiz verlernt haben.
Das Leben in Dänemark ist entspannter. Es lastet weniger Druck auf jedem Einzelnen. Man muss sich nicht beweisen, indem man möglichst lange ohne freien Tag durchhält. Auch in Dänemark arbeitet man zwischendurch länger. Medizinischer Alltag lässt sich nirgends auf der Welt auf die Stunde genau planen. Hingegen kann man die Überzeit kompensieren oder sich auszahlen lassen.
Hohe Flexibilität dank Vertrauen ins Team
Wer sich nicht fit fühlt, geht nachhause. Kennen wir das nicht von früher? Der Grund dafür ist einfach: Man steckt weniger Menschen an. In Dänemark ist es akzeptiert, dass Ärztinnen und Ärzte sich abmelden, wenn sie sich krank fühlen oder das eigene Kind krank ist. Dann übernehmen andere die Arbeit.
In der Schweiz würde man sich mithilfe von Medikamenten durchkämpfen. Sind übermüdete Pflegende und Ärzte nicht ein Risiko für die Patienten?
In Dänemark ist akzeptiert und respektiert, dass private Angelegenheiten nicht immer planbar sind, und jeder profitiert einmal von dieser Kulanz.
In Dänemark denkt man Zukunft und hat aus der Vergangenheit gelernt.
Bei Spitalneubauten beispielsweise setzt man konsequent auf Einzelzimmer, weil diese das Infektionsrisiko reduzieren und den Patientinnen und Patienten mehr Komfort bieten. Und falls jemand sich einsam fühlt, kann im neuen Bettentrakt in Kopenhagen tagsüber eine Schiebetüre zum Nachbarzimmer hin geöffnet werden.
Überweisungsberichte und Codierungen von Diagnosen, die niemand liest
Christoph Tschuor ist schon viel in der Welt herumgekommen. Gestartet hat er in der Schweiz, wo er sich an seine Zeit als Assistenz- und Oberarzt erinnert. Wie er Zeit vergeudete mit mehrseitigen Diagnoselisten und Überweisungsberichten. Vergeudet, weil diese weder ein Patient noch ein Hausarzt ganz durchlese. Dazu komme in der Schweiz die Pflicht zur Codierung von Diagnosen, Behandlungen und Therapien, damit mit den Krankenkassen abgerechnet werden kann.
Diesen hohen administrativen Aufwand gibt es in Dänemark nicht. Dort ist man vernetzt. Sprich, Ärzte können auf das elektronische Patientendossier mit allen relevanten Daten zugreifen. Ein Austrittsbericht ist in drei Minuten erfasst. Auch Patienten haben Zugriff auf die App und können darüber sogar Arzttermine buchen.
Radikale Spitalreform als Grundlage
Dänemark verfügte über 78 Akutspitäler. Heute sind es noch 21. Die Spitalreform ist radikal. Ein Teil der Regionalspitäler wurde ersatzlos geschlossen, andere zu ambulanten Gesundheitszentren umfunktioniert. Hochspezialisierte Eingriffe werden nur noch in ein bis drei Spitälern ausgeführt, etwas weniger komplexe Eingriffe in ein bis drei Spitälern pro Region.
Die Zahl der Spitalbetten wird um 20 Prozent reduziert. Bereits heute hat Dänemark halb so viele Spitalbetten pro Kopf wie die Schweiz.
Nicht nur Vorteile
Damit diese Reform überhaupt durchgeführt werden kann, bezahlen die Dänen viel Steuern. Mindestens 37 Prozent des Gehalts gehen weg, bei höheren Löhnen sogar 52 Prozent. Das ist echt viel und wohl auch der Grund, warum andere Länder sich damit schwertun.
Das «Viel» relativiert sich allerdings, wenn der Gegenwert stimmt und die Vorteile klar vorhanden sind.
Das staatliche Sozialsystem, zum Beispiel, ist in Dänemark sehr stark: Wer Mitglied einer Arbeitslosenkasse ist, bekommt bei einem Jobverlust zwei Jahre lang 90 Prozent seines Gehalts ausbezahlt. Alle Bewohner sind automatisch krankenversichert.
So gut kann sich ein Wir anfühlen. In Dänemark ist man sich bewusst, wie sehr Existenzängste, gerade in Zeiten der Not, lähmen.
Auch das dänische Gesundheitssystem hat Schwachstellen
Da die Spitäler in Dänemark zentralisiert wurden, kann es zu langen Anfahrtswegen kommen. Und auch zu langen Wartezeiten. Beides ist für Patienten belastend und insbesondere bei schweren Krankheiten nicht zu unterschätzen. Dies ist einer der grössten Kritikpunkte am dänischen Gesundheitssystem.
Auch in Dänemark fehlt es an Hausärzten und Pflegefachleuten. Und es fehlt auch dort die Zeit, sich wirklich um die Patienten kümmern zu können.
Man kann die dänische Reform vollumfänglich kritisieren oder sich fragen, was man in der Schweiz ähnlich, ganz oder gar nicht umsetzen könnte. Auch ein schrittweises Abtasten, ein Vorangehen dort, wo es möglich ist, hilft uns, wichtige Erfahrungen in Richtung gesundes Gesundheitswesen zu sammeln.
29.2.2024, Andreas Räber, GPI®-Coach, Wetzikon