Gewalt im Gesundheitswesen: Gründe und Lösungsansätze

Konflikte am Arbeitsplatz gibt es immer wieder. Von harmlos bis gefährlich? Insbesondere im Gesundheitswesen kommt es immer wieder zu Gewaltakten, wie Medinside berichtet. Beschimpfungen, Schläge, Tritte -- das geht eindeutig zu weit! Gründe und Lösungsansätze.

«Zwei Meter weit ist die Kollegin geflogen und hat sich erst mal nicht bewegt. Der Patient hatte sein Bein angezogen und ihr mit bewusst und gezielt gegen den Kopf getreten» (Quelle: Medinside «Gewalt findet oft unter dem Radar statt» )

Leider ist das kein Einzelfall, wie eine Umfrage von Medinside in Schweizer Spitälern zeigt. Fast alle Spitäler verzeichnen seit Jahren eine steigende Anzahl von Bedrohungssituationen, die oft ein Einschreiten des Interventionsdienstes erforderlich machen. Besonders betroffen sind die Notfallstationen. Von mehr als einer Bedrohungssituation pro Tag spricht Caroline Johnson vom Universitätsspital Basel und bei der Inselgruppe in Bern musste der interne Sicherheitsdienst im Jahr 2022 rund 1800-mal eingreifen.


Gründe für die gestiegene Aggression

Alkohol, Drogen, Medikamente, Delir (akute Verwirrtheit), Intoxikationen (schädliche Einwirkung einer chemischen, pflanzlichen oder tierischen Substanz auf den Organismus), Demenz oder das kulturelle Verständnis. Ausnahmezustände. Auch Hilflosigkeit, Verzweiflung und Scham können eine grosse Rolle spielen, oder wenn Patienten eine sinnvolle Beschäftigung fehlt.

Kurz: wenn wir nicht mehr uns selbst sind. Status fremdbestimmt und damit ausgeliefert.

(Quelle: «Mit dem Baseballschläger im Notfall-Dienst» - Medinside.ch, 30.5.2023 )

Wer will schon ausgeliefert sein! Und wenn, dann wenigstens an einem vertrauten Ort mit vertrauten Menschen. Aber an einem fremden Ort, wo man vielleicht seinen Zustand gar nicht mehr in Worte fassen kann? Wo fremde Menschen an einem unangenehme Dinge tun, die man nicht versteht?

Und das Pflegepersonal?


Da steckt mehr dahinter

Martin ist Pflegehelfer. Immer wieder erlebt er gewaltbereite Patienten. Menschen, die nicht einschätzbar sind. Das beschäftigt Martin sehr. Doch nicht nur das. Im Pflegeteam läuft es auch nicht so rund. Laufend muss er zusätzliche Dienste übernehmen, auch sehr zum Frust seiner Familie. Erholung und einfach mal runterfahren ist selten möglich. Dazu kommt noch der Zeitdruck, der in der Pflege halt herrscht. Martin fehlt es immer mehr an Geduld. Pflege hat sich sehr verändert.

Ursprünglich wollte er Menschen unterstützen und Zeit für sie haben.Letzteres fehlt immer mehr. Halt, stopp. Es ist genau so viel Zeit vorhanden wie früher. Nur werden immer mehr Aufgaben hineingepackt.

Schon bei Schichtbeginn ist Martin unter einem enormen Zeitdruck. Manchmal redet er sarkastisch von Fliessbandarbeit, was bei körperlich und psychisch angeschlagenen Menschen schlecht möglich ist. Was also tun? Das Gesundheitswesen soll schliesslich auch Aktionäre glücklich machen.


Einflüsse von innen

Meine Sichtweise. Deine Sichtweise. Meine Welt. Deine Welt. Nicht das, was wir sehen, bestimmt unser Verhalten, sondern vielmehr das, was sich in uns selbst abspielt. Da sind zum Beispiel:

  • Erwartungen (= unsichtbare, nicht abgesprochene Verträge zwischen mehreren Parteien)
  • Erfahrungen (Erziehung und bisher Erlebtes können den Blick für bestehende Möglichkeiten verengen)
  • Ausbildung (Idealfälle, selbst vielleicht noch nie erlebt, Thesen)
  • Zeitdruck und zu hohe Ansprüche an sich selbst
  • Soziales Umfeld (Familie wartet = Emotionen, Ausgleich und Austausch kommt zu kurz)
  • Fortlaufende Entmutigung und schwindende Kraft
  • In der Folge erhöhte Empfindsamkeit: Vieles wird schlimmer beurteilt, als es wirklich ist, mögliche Überreaktionen

Wir Menschen sind sehr komplex. Wir denken, fühlen und handeln individuell. Was sich auch unmittelbar auf den zwischenmenschlichen Kontakt auswirkt. Es kommt zu Wechselwirkungen, die in positive oder auch negative Richtungen führen können.

Meine Sichtweise. Deine Sichtweise. Meine Welt. Deine Welt.

Ansätze zur Deeskalation

Jegliche Gewalt muss rasch unterbunden werden oder, noch besser, sie entsteht gar nicht erst.

Mögliche Verhaltensweisen:

  • Begegnungen in einer Haltung von positiver Grundabsicht.
  • Patienten grösstmögliche Freiheit lassen.
  • Ruhe bewahren.
  • So weit wie möglich verbal deeskalieren. Hilfe im Team anfordern.
  • Selbstschutz: Sicherheitsdienst, bei Bedarf wird die Polizei aufgeboten.
  • Medikamentöse Beruhigung der ausfälligen Personen.
  • Aggressionsmeldung. Diese wird mit der vorgesetzten Person sowie dem Verantwortlichen des Sicherheitsdienstes besprochen. Gemeinsam werden mögliche weiterführende Massnahmen wie eine Abmahnung durch den Rechtsdienst eingeleitet.

Prävention

Verstehen, verbindend auftreten, dank gewaltfreier Kommunikation, ist einer von vielen Ansätzen.

Prävention fängt zudem bereits bei einem Anstellungsgespräch oder in der rollenden Planung für Mitarbeitergespräche an. Eine offene Diskussion, Austausch der Learnings, Entwicklung von Frühsignalen und mehr Zeitbudget bei anfälligen Patienten etc.

Die Gründe, warum eine Situation eskaliert, sind oft Ausnahmesituationen, die niemand wirklich will. Ausnahmesituation bedeutet: Wir sind teilweise nicht mehr wirklich uns selbst. Und genau dorthin sollten sowohl Pflegepersonal wie Patienten nicht kommen.

Wer einen Blick auf den aktuellen Fachkräftemangel wirft und wer selbst im Gesundheitswesen arbeitet, weiss, dass dies alles andere als einfach ist.

Trotzdem:

Spitäler bieten Deeskalations-Schulungen und Selbstverteidigungskurse zum Umgang mit verbaler wie auch physischer Gewalt an. So kann körperliche Gewalt im Moment verhindert oder abgewendet werden.

Und auch hier ist wieder unsere Innenwelt beteiligt, unser persönliches «Paket», das mitstreitet. Hier tut es gut, zu verstehen, warum wir und andere in einer herausfordernden Situation so agiert oder reagiert haben.

Verschiedenes Denken, Fühlen und Handeln ? alle aus ihrer Sicht. Achtsamkeit ermöglicht uns, ein körperliches Frühwarnsystem zu entwickeln, um das nächste Mal vielleicht anders handeln zu können ?

6.6.2023, Andreas Räber, GPI®-Coach, Wetzikon