Personalmangel im Gesundheitswesen? Längst Geschichte!
Fachkräftemangel ist in vieler Munde und vor allem in vielen Medien. Überall mangle es an fähigem Personal. Trotz intensiver Suche finden Gesundheitsbetriebe kaum Arbeitskräfte mehr. Es entsteht der Eindruck, dass diese Entwicklung relativ neu sei. Als Gründe werden die Arbeitsbedingungen wie Schichtdienst sowie vermehrt administrative Arbeiten genannt. Personalmangel im Gesundheitswesen gibt es jedoch nicht erst seit heute. Er ist längst Geschichte!
"Der Pflegenotstand ist mindestens 100 Jahre alt" titelt das Online-Magazin GEO in einem Artikel vom 16.5.2024. Die Medizinhistorikerin Monja Schünemann erklärt, wie Versuche bislang gescheitert sind, mehr Fachpersonal zu finden.
Schwesternmangel
Bereits um 1920 taucht der Begriff "Schwesternmangel" in Politik und Medien auf. Krankenhäuser hatten schon damals Probleme bei der Suche nach gut ausgebildetem Personal. Schünemann sieht den Grund darin, dass Frauen, die während des Ersten Weltkriegs in Lazaretten gearbeitet hatten, nach dem Krieg nicht mehr benötigt wurden. In der Zwischenzeit wurden viele davon Hausfrau und Mutter und Hausfrau .
"Pflege ist eine Kunst": Der Reformprozess von Florence Nightingale
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte die englische Krankenschwester Florence Nightingale den Satz: "Pflege ist eine Kunst!" Damit wollte sie der Vorstellung entgegenwirken, dass Händchenhalten genüge. Das Pflegepersonal hatte damals kaum Kompetenzen. In Deutschland versorgten Krankenwärterinnen und Krankenwärter die Patienten mit Essen, brachten sie von A nach B oder beaufsichtigten sie. Wie so oft bestimmten Ärzte, wie Patienten nach dem Eingriff versorgt werden sollten. Nightingale wollte aber auch die Pflege zu einer Disziplin führen, die gleichberechtigt und unabhängig neben der ärztlichen Medizin stehen sollte.
Für die Pflege gab es keine einheitliche Ausbildung. Nightingale wirkte dieser Situation entgegen, indem sie 1860 in London eine Pflegeschule gründete.
Studierende wurden dort zunächst ein Jahr lang sehr anspruchsvoll ausgebildet. Diese Arbeit trug Früchte: Die Ausbildung erhielt einen sehr guten Ruf. Das von Nightingale angeleitete Personal wurde schnell landesweit von englischen Kliniken gesucht. Ihr Ausbildungssystem verbreitete sich über die Landesgrenzen hinaus im ganzen angelsächsischen Raum und noch weiter.
Die Situation in Deutschland
Zum Beispiel bis nach Deutschland. Königin Viktoria, die 1858 den preussischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm heiratete, gründete Krankenhäuser nach Florence Nightingales Vorbild. Viktoria wollte die Ansätze aus England durchsetzen, scheiterte aber. Im Deutschen Kaiserreich betrachtete man diese neue Ideen aus England mit viel Misstrauen. Es entstand sogar die Paranoia, dass Viktoria von ihrem eigenen Sohn als englische Spionin verdächtigt wurde. Damit nicht genug: Die Ärzte verteidigten die Pflege als ihre eigene Bastion. Die staatlichen Behörden verzichteten schliesslich darauf, den Pflegeberuf aufzuwerten und damit attraktiver zu machen. Andere Länder machten es besser. Deutschland setzte seit dieser Zeit auf wirkungslose Werbemassnahmen anstatt auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und auf Anerkennung des Berufsstands.
Aufwertung des Pflegeberufs. Ansätze.
Wie kann der Pflegeberuf aufgewertet werden? Die Medizinhistorikerin Monja Schünemann nennt im GEO-Artikel verschiedene Ansätze. Allen voran ein besseres Gehalt und bessere Arbeitsbedingungen. Und mit Klischees aufräumen, wie "Den ganzen Tag den Patienten den Hintern abwischen". Pflegeberufe sind sehr anspruchsvoll und dürfen in der Gesellschaft mit mehr als nur Applaus belohnt werden.
H2 Und die Situation in der Schweiz?
Blicken wir zurück in die Vormoderne. Da kümmerten sich auch männliche "Wärter" und Mönche um die Bedürftigen. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Pflege zu einer typisch weiblichen Tätigkeit. Laut Medizinsammlung.ch war die schweizerische Pflege zu dieser Zeit fest in der Hand kirchlicher Orden. Diese waren vertraglich an Spitäler gebunden und stellten nahezu das gesamte Pflegepersonal. Die Berufskleidung von Krankenschwestern ging dabei auf die Tracht der Ordensschwestern und Diakonissen zurück und symbolisierte selbstlose Aufopferung.
Schrittweise etablierten sich konfessionslose Schulen. Zum Beispiel im Jahr 1899, als das Schweizerische Rote Kreuz in Bern mit einer Pflegerinnenschule startete. In den 1970er-Jahren wurde das pflegerische Aufgabenfeld um Pflegediagnose, Patientenüberwachung oder den Umgang mit chronisch Erkrankten erweitert. Aus der typisch weiblichen Hilfstätigkeit und dem christlichen Liebesdienst entwickelte sich ein eigenständiger Beruf mit einem vielfältigen Aufgabenbereich, der eine umfassende Ausbildung verlangt.
Der überraschender Weg der Emanzipierung
Es mag einen überraschen oder erstaunen: Die Emanzipierung der Pflegeberufe geschah nicht etwa auf zwischenmenschlicher Basis, sondern durch die Technisierung. Im 20. Jahrhundert wurden in den Krankenhäusern mehr technisch komplexe Apparate angeschafft. Insbesondere auf den Intensivstationen. Aufgrund dieser Entwicklung mussten ÄrztInnen viele hochspezialisierte Tätigkeiten an Pflegende abgeben. Die Zusammenarbeit zwischen Pflegenden, Ärzten und technischem Personal wurde immer wichtiger.
Pflegefachfrauen waren nun nicht mehr nur für die Grundpflege zuständig. Sie überwachten die Vitalfunktionen der Patienten und Patientinnen und bedienten die neuen Geräte. In spitalinternen Weiterbildungskursen wurde das notwendige technische Know-how vermittelt. Diese Kurse stehen beispielhaft für die Professionalisierung der Pflegeberufe, die leider erst ab den 1980er-Jahren stattfand.
Was die Pflege aber seit Beginn prägt, ist der Personalmangel, die herausfordernden Arbeitsbedingungen und die unzureichende Bezahlung.
Bleibt die Hoffnung, dass uns die Pflegeinitiative von diesen über 100-jährigen und peinlichen Lasten befreit und der Pflegeberuf endlich den notwendigen Respekt und die längst verdiente Anerkennung erhält.