Psychiatrie an ihren Grenzen und was wir selbst tun können
Menschen, die sich nicht mehr orientieren können, deren Lebensalltag an Heimatgefühlen oder wichtigen Gewohnheiten eingebüsst hat, finden nur mit Verzögerung Begleitung in der professionellen Psychiatrie. Und das auch nur, weil längst pensionierte Psychiater noch weiterarbeiten. Ein Einblick in eine unangenehme Realität im Gesundheitswesen.
«Aufnahmestopp. Bis ein passender Behandlungsplatz gefunden wird, braucht es oft mehrere Zuweisungsversuche und dauert Wochen bis Monate.» Der Artikel «Die psychiatrische Versorgung im Kanton Bern läuft am Limit» der Berner Zeitung zeigt einen Einblick in die aktuelle Situation der Psychiatrie im Kanton Bern. Diese ist ernüchternd. Es fehlt an Psychiatern. Die Zahl der in Bern tätigen Erwachsenenpsychiater nimmt laufend ab. Ein Beispiel: Zwischen 2018 und 2021 sank ihre Anzahl von 218 auf 193. Jede Hilfe zählt. Über 40 Prozent der praktizierenden Psychiater wären schon pensioniert ...
Es tut sich etwas - aber viel zu langsam
Nicht nur die Mühlen des Gesetzes laufen langsam. Auch die Förderung des Gesundheitswesens, obwohl wir aus der Corona-Pandemie einiges lernen könnten. Während die psychiatrische Grundversorgung im Studium gestärkt werden oder ein Praxisassistenzprogramm aufgebaut werden sollte, haben zum Beispiel die Notfälle bei Kindern und Jugendlichen um das Vierfache zugenommen. Corona hat seinen Teil dazu beigetragen, sind doch psychische Herausforderungen digital nicht oder nur geringfügig messbar und nur mit Zeitverzögerung spürbar. Psychisch kranke Menschen brauchen eine angemessene psychiatrische Betreuung von Mensch zu Mensch. An die psychiatrische Versorgung haben wir konkrete und manchmal auch unrealistische Erwartungen. In der Psychiatrie arbeiten auch nur Menschen mit begrenzten Kräften.
Mit eigener Betroffenheit bewusst umgehen
Energiekrise, Inflation, Angst vor Arbeitslosigkeit - die Herausforderungen nehmen zu und greifen gerne mal auf unsere Psyche über. Kommt dazu, dass Angst alle möglichen Gefahren potenziert und uns dadurch lähmen kann. Manchmal fokussieren wir unseren Blick auf die negativen Schlagzeilen der Medien. Sind in der eigenen Familie noch Verwandte, die Krieg, Hunger oder Arbeitslosigkeit miterlebt haben, bekommen diese Herausforderungen in unseren Gedanken noch mehr Gewicht.
Etwas Schweres erlebt zu haben, bedeutet, dass wir in ähnlichen Situationen die gleichen Gefühle von damals auch heute in der gleichen Intensität erleben und oftmals ausblenden, dass wir heute andere Handlungsmöglichkeiten haben.
Geschichte darf sein, wenn sie in der Familie auch thematisiert und darüber ausgetauscht wird. Sie verliert so an Wirkung und kann eingeordnet werden. Wird jedoch darüber geschwiegen, ist sie trotzdem da, zwar nicht greifbar und nimmt deshalb unsichtbar umso mehr Raum ein. Es fehlt an Informationen und an Wirklichkeit.
Was wir selbst nicht erlebt haben, können wir uns nicht vorstellen. Also greifen wir auf unsere bestehende Vorstellung zurück, der jeglicher Wahrheitsgehalt aufgrund fehlender Erfahrung fehlt.
Das muss nicht sein. Je früher wir darauf reagieren, desto grösser sind die Chancen, dass unser Wohlbefinden im grünen Bereich bleiben kann.
Die Möglichkeiten erkennen, respektieren und anwenden
Eine der wohl grössten psychischen Herausforderungen ist das Gefühl von Ausgeliefertsein, von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Nichts tun können. In der Folge läuft unsere mentale Simulation auf Hochtouren. Das bewirkt einen Dauerstress in Körper und Psyche.
Wir sehen und spüren im wahrsten Sinne des Wortes, was alles sein könnte. Dabei treffen die meisten gefürchteten Ereignisse gar nicht ein ...
Der bekannte Automobilhersteller Henry Ford hielt es folgendermassen: «Wenn ich Dinge nicht ändern kann, lasse ich ihnen ihren Lauf.» Abgrenzung ist eine wirkungsvolle Möglichkeit, sich selbst zu stabilisieren. Es braucht den Mut, neue Wege zu gehen.
Wir sind nicht auf dieser Welt, um die Besten zu sein, sondern um das uns mögliche Beste zu geben.
«Du bist gut genug» lehrt uns die Individualpsychologie. Als Mensch genügen wir und sind schon alleine dadurch wertvoll, dass es uns gibt. Dieses Wissen entlastet. Entlastung hilft uns, neue Möglichkeiten zu erkennen und erste Schritte zu wagen. Bewegung im Innen und Aussen tut gut und unterstützt zugleich das angeschlagene Gesundheitssystem. Denn jede eigene Haltung und Handlung, die unsere Psyche und Gesundheit unterstützen, ist wichtiger denn je.
Auf diese Weise kann das kränkelnde Gesundheitswesen am schnellsten gesund werden und Raum für Menschen schaffen, die ohne Psychiatrie keine Perspektiven mehr haben.