Unser Gesundheitswesen braucht neue Sichtweisen und Mut
Insbesondere im schweizerischen Gesundheitswesen hört man immer wieder den Begriff Fachkräftemangel. Die Prognosen, was die Anzahl der Arbeitskräfte in den nächsten zehn, zwanzig Jahren angeht, sind nicht ermutigend. Wir können Herausforderungen nicht immer auf dieselbe Art und Weise lösen wie bis anhin. Neue Sichtweisen und Mut für die Umsetzung sind angesagt.
Vier fiktive Beispiele, wie es zu Fluktuationen in Gesundheitsbetrieben kommen kann:
Beispiel 1) Kurt ist Arzt. Er liebäugelt schon lange damit, etwas völlig Neues zu wagen. Das Angebot, bei einer Krankenkasse einzusteigen, kommt im richtigen Moment. So kann er sein Fachwissen einsetzen - und für ihn sehr wichtig: Er hat geregelte Arbeitszeiten. Diese persönliche Neuorientierung darf er sich nicht entgehen lassen. Endlich mehr Planbarkeit und Stabilität ...
Beispiel 2) Anna möchte wieder in der Nähe ihrer in die Jahre gekommenen Eltern wohnen und arbeiten. Sie möchte mehr Zeit für die beiden haben. Der Arbeitsweg zu ihrem Arbeitgeber, einem Spital in der Ostschweiz, wäre definitiv zu weit. Ihre Eltern wohnen im Berner Oberland. Sie entschliesst sich, umzuziehen. Endlich mehr Beziehung ohne schlechtes Gewissen ...
Beispiel 3) Peter bekommt die Chance seines Lebens. Bei einer überregionalen beruflichen Weiterbildung lernt er einen Arzt aus einem anderen Spital kennen. Vom ersten Moment an kommen die beiden gut miteinander aus. Mit Folgen. Peter hat ein so derart lukratives Angebot erhalten, dass er unbedingt zusagen muss. Endlich mehr mitgestalten können ...
Beispiel 4) Opfer zu sein, fühlt sich scheusslich an. Das erfährt Marianne, die über 30 Jahre als FAGE im gleichen Gesundheitsbetrieb arbeitet, am eigenen Leib. Sie soll schuld sein, dass im Team diese miese Stimmung herrscht.
Wenn wir uns selbst schützen wollen, verzerren wir wie die Weltmeister, deuten Dinge anders, blenden meisterlich aus, verdrehen Aussagen und Fakten so, dass wir fein raus sind. Mühsam.
Für Betroffene kaum auszuhalten und für "Nicht"-Betroffene lediglich ein Aufschieben des Genauer-Hinsehens. Erfolge schreiben wir gerne uns zu, Misserfolge delegieren wir an andere. Marianne braucht Distanz. Sie will sich neu ordnen. Endlich raus aus den Schuldzuweisungen ...
Endlich ...
Folgen von Fluktuationen im Gesundheitswesen
Wo passieren im Berufsalltag am meisten Fehler?
- Bei Schnittstellen und Informationsfluss.
- Bei Wissen und dessen Umsetzung.
Diese Schnittstellen finden zwischen Mensch und Mensch statt. Und zwischen Mensch und Technik. Mensch und Technik: Hinter diesen beiden einfachen Worten stecken sehr viel positive wie negative Erfahrungen (Mensch) und unglaublich komplexe Programmierungen (Technik und Mensch (innere Stimmen, Selbstsaboteure)).
Der unsichtbare Teil des Eisbergs ist bekanntlich mehrfach grösser als der sichtbare.
Wertvolle Kompetenzen werden oft erst sichtbar, wenn die Mitarbeitenden den Betrieb verlassen haben. Kein Wunder, kommt es bei einer hohen Personalfluktuation zu mehr Missverständnissen oder es passieren mehr Fehler in der fachlichen Umsetzung.
Im zwischenmenschlichen Bereich kann dies ebenfalls massive Auswirkungen haben. Ein häufiger Personalwechsel kann sich für Patienten sehr schlimm anfühlen. Insbesondere Patienten mit Demenz brauchen Stabilität beim Pflegepersonal.
Fluktuationen können nicht verhindert, aber ganz sicher reduziert werden.
Das muss ein Ziel aller Gesundheitsbetriebe sein! Eine Studie zeigt, Personalwechsel kann einen wesentlichen Einfluss auf die Patientenversorgung haben und offenbar sogar auf die Mortalität. So das Resultat einer Datenanalyse aus 148 britischen Kliniken, wie Medinside.ch im Artikel "Hohe Fluktuation ist ein Qualitätskiller" vom 2. Januar 2025 berichtet.
Gemäss der Analyse der über neun Jahre erfassten Daten zeigt sich eine Korrelation zwischen Wechselrate und medizinischen Ergebnissen. Statistisch gesagt:
Eine Steigerung der Fluktuationsrate beim Pflegepersonal wie bei Ärzten verschlechterte die Qualität der Patientenversorgung messbar. Es überrascht nicht, dass in Spitälern mit ohnehin schlechteren Qualitätswerten der Effekt noch ausgeprägter ist.
Personalwechsel hat zwei Seiten. Er kann beleben oder schwächen. Und was geschwächt ist, braucht wieder Zeit, um belebt zu werden. Beleben funktioniert dann am besten, wenn das bestehende Team mitgestalten kann.
Niemand ist so schnell ersetzbar!
Es gilt mehr denn je: Der Mensch ist das höchste Gut einer Unternehmung. Besonders in Gesundheitsbetrieben ist dies eine sehr notwendige Überzeugung. Für Mitarbeitende und PatientInnen.
"Es dauert ein ganzes Jahr, bis sich neue Mitarbeitende richtig eingearbeitet haben."
Diese Aussage stammt von einem meiner früheren Vorgesetzten. Ein Jahr als Richtwert, dem stimme ich mit gutem Gefühl zu. Das bedeutet:
Fluktuation hinterlässt mehr Löcher, als wir uns vielleicht bewusst sind. Einfach schnell mal auswechseln und alles ist gut - das geht in den wenigsten Fällen.
Dass ein Personalwechsel zu Mängeln bei der Kommunikation und den Arbeitsabläufen führen kann, ist sehr nachvollziehbar und auch für die PatientInnen spürbar.
Vertrauen und Gehörtwerden sind - gerade für vulnerable Menschen - wichtige Voraussetzungen im Gesundungsprozess. Und ebenso wichtig für das Personal im Gesundheitswesen.
So komisch es klingen mag: Gesundheitspersonal und Patienten sind am erfolgreichsten, wenn sie Herausforderungen als Team angehen.
Förderung von Fluktuationen
Hier noch ein paar Punkte aus dem Alltag, wie die Fluktuation am wirksamsten erhöht wird:
- Unrealistische Ziele von Vorgesetzten, Aktionären und Politikern, die hauptsächlich gewinnorientiert sind
- Rationale Vorgaben von Entscheidungsträgern, die keine praktische Erfahrung mit den Anforderungen im Berufsalltag des Gesundheitswesens haben
- Aussagen wie
- "Wie und wann Sie das lösen, liegt an Ihnen."
- "Wir müssen die Kosten noch mehr senken!", nachdem "die Zitrone schon ausgepresst" ist
- "Das letzte Mal ging es auch."
- Unzumutbare körperliche und psychische Belastung
- Fehlende Anerkennung im gesellschaftlichen Umfeld
- Tiefe Löhne
- Allezeit bereit
- Mittelalterliche Administration
- Berichte schreiben müssen, die nachweisbar niemand liest
- u. s. w.
Was hier vielleicht für Kopfschütteln sorgt, bietet für Gesundheitsbetriebe eine enorme Chance. Wenn obige Punkte eingeschränkt oder gar verhindert werden können, nimmt auch der Fachkräftemangel ab. Nicht so schnell, wie wir uns das vielleicht wünschen, dafür umso nachhaltiger.
Neue Arbeitsbedingungen sind dann am wirksamsten, wenn sie sich am Aufnahme- und Leistungsvermögen des Pflegepersonals orientieren und darum Schritt für Schritt eingeführt werden.
Vielleicht ist der finanzielle Gewinn etwas kleiner, dafür wächst der Nutzen für unsere ganze müde Gesellschaft.