Gesucht: Psychiaterinnen. Gefunden: Warteschlange. Die Gründe.

Der Wecker klingelt, die Realität holt uns ein. Aufstehen ist angesagt. Bewegen. Ja, klar: Für viele mag das kein Problem sein. Doch was, wenn ein Wollen-und-nicht-können-Können eintritt? Dann - eigentlich schon viel früher! - ist es Zeit, sich auf die Bedürfnisse von Körper und Psyche einzulassen. In ernsten Fällen erfordert dies die Meinung und Expertise von Fachpersonen: zum Beispiel von Psychiatern. Doch die werden zurzeit überrannt. Willkommen in der Realität!

Um Psychiater zu werden, dauert es Jahre. 6 Jahre Medizinstudium und nochmals 5-6 Jahre für den Facharzttitel. Viel Aufwand für einen Beruf, der einen ganz schön herausfordern kann. Mittlerweile fallen gut 30 Prozent (!) der Arbeit auf Administration, berichtet ein Psychiater im NZZ-Artikel "Im Land mit der grössten Dichte an Psychiatern werden die Wartelisten für Termine immer länger. Was läuft da falsch?"

Wo viele Kosten entstehen, ist Transparenz gefragt: genaue Auflistungen und Begründungen, wann und wo diese entstanden sind. Gesuche um Kostengutsprachen von der Krankenkasse, Berichte für die Invalidenversicherung und Zweitmeinungen für die Taggeldversicherung - all das hält die Psychiaterinnen davon ab, die Warteschlangen an psychisch angeschlagenen Menschen zu verkleinern.

Es ist wichtig, Aufwand, Massnahmen und Entwicklung zu dokumentieren. Doch 30 Prozent der Zeit ist ein hoher Anteil. Diese Administration soll uns, soll den Krankenkassen eine gewisse Sicherheit geben, damit nicht unnötig Kosten generiert werden.

Das Dumme ist nur: Das hilft den Wartenden in ihrer Situation wenig.

Wenn eine psychisch angeschlagene Person sich aufrafft, zum Psychiater zu gehen, kostet sie dies unter Umständen viel Kraft, die sie vielleicht gar nicht zur Verfügung hat.

Da wäre schnelle psychiatrische Hilfe so wichtig. Damit sich schlechte Muster nicht noch mehr festsetzen.

Für die Macht der Gewohnheit ist unsere Psyche offen.

Die Schweiz ist das Land mit der höchsten Dichte an Psychiatern

Es klingt wie ein Hohn - und eigentlich sollten wir uns ja nie mit anderen vergleichen. Trotzdem: Hierzulande haben wir die höchste Dichte an Psychiaterinnen. Pro 1000 Einwohner doppelt so viele wie in Deutschland. Und doch:

Neue Patienten warten zum Teil bis zu einem Jahr auf einen Termin.

Werfen wir einen Blick zurück auf die letzten fünf Jahre. Vergleichen wir diese mit den 30 Jahren davor, so waren es die intensivsten, denen unsere Generation ausgesetzt war. Als ob das Bisherige nicht schon genug gewesen wäre, sind wir aktuell noch weiteren Unsicherheiten ausgesetzt:

  • Geopolitische Lage
  • Transformation in der Berufswelt durch KI
  • Pandemie
  • Klimawandel
  • Krankheiten (Lebensbedingungen, Umweltbelastung)
  • Etc.

Diese Tatsachen und Ereignisse sind nicht einfach wegzustecken. Weil viele von uns nicht darauf "trainiert" wurden. Weil die Erfahrung für den Umgang damit fehlt. Für die jüngeren Generationen schien es, vieles kostenlos und per einfachem Klick zu geben. Herausforderungen, Ausdauer, Unsicherheiten waren ganz anders geartet. Ohne Training geht uns allen der Schnauf früher aus. Und nun werden wir von den aktuellen Ereignissen überrannt.

Die Welt dreht sich schneller als unser Aufnahmevermögen es verträgt.

Und so erlebten viele von uns zum ersten Mal Ohnmacht. "Der Anteil der Bevölkerung, der sich wegen psychischer Probleme behandeln liess, hat sich seit 1997 verdoppelt und ist auf 1,5 Millionen Menschen angewachsen." schreibt die NZZ im erwähnten Artikel weiter.

Die Sozialen Medien und ihre Auswirkungen auf unsere Psyche

Soziale Medien haben einen Einfluss auf unsere Psyche, auch wenn es z. T. Studien gibt, die das Gegenteil behaupten. Das mag aber nicht pauschal gelten.

Meistens ist es so, dass instabile Menschen noch instabiler werden.

Auf Tiktok sehen junge Menschen, was andere über ihre Krankheiten - wie zum Beispiel "Angststörung" - veröffentlichen und was sie empfehlen. So entsteht ein Austausch, mit allen Vor- und Nachteilen. Vorteil: Es entsteht eine Atmosphäre der Offenheit. Krankheiten werden enttabuisiert. Mit der Folge: Dass schneller Hilfe geholt wird. Nachteile: Plötzlich fühlen sich alle irgendwie krank.

Beispiele psychischer Krankheiten sind:

  • Affektive Störungen (Depressionen)
  • Belastungsstörungen (Burn-out, Suchtprobleme, Verhaltens- oder Emotionsstörungen)
  • Persönlichkeitsstörungen
  • Psychosen und Schizophrenien
  • Etc.

Trends wie ASS und ADHS

Für direkt Betroffene sind Begriffe wie "Modediagnose" oft schwer zu verdauen, haben sie doch jahrelang an etwas Undefinierbarem gelitten. Nun zeigen neueste Forschungen, dass sie beispielsweise eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) haben.

Wenn sich die Forschung weiterentwickelt, werden auch mehr psychische Störungen erkannt und können behandelt werden.

Dies ist ein weiterer Grund, warum mehr psychisch angeschlagene Menschen den Gang zum Psychiater wagen.

Im NZZ-Artikel sieht man die Ursache für die zunehmenden psychischen Erkrankungen darin, "dass die Seelenheilkunde viel enger als andere medizinische Fachrichtungen mit der gesellschaftlichen Entwicklung verknüpft ist."

"Ich kann nicht mehr" steht einem "Du kannst viel mehr" gegenüber. Doch auch Selbstoptimierung hat ihre Grenzen.

Ein Hamsterrad, dem nur mit Klugheit und Willensstärke zu entkommen ist.

Ein ganzes Paket an Möglichkeiten

Die Beatles, Tina Turner, Albert Hammond: Viele Weltstars haben ihre Karriere im örtlichen Kirchenchor gestartet oder haben sich an einem Kirchenfest kennengelernt. Damals, vor gut 50 bis 70 Jahren, lief im Dorf oder in der Stadt nicht allzu viel. Da war weniger mehr. Und das Weniger hat schlussendlich zum Mehr geführt.

Und heute?

Der deutsche Physiker und promovierte Philosoph Marco Wehr schreibt in seinem Buch "Komplexe neue Welt und wie wir lernen, damit klarzukommen", dass wir heute mit einem bekannten Problem konfrontiert sind:

Der Qual der Wahl. Und wenn wir ehrlich sind, sind wir das rund um die Uhr.

Während wir früher das Gute vom Schlechten unterscheiden konnten, haben wir heute eine enorme Auswahl an Möglichkeiten. Wehr schreibt: Einkaufen wird von den meisten Menschen als notwendiges Übel angesehen und ist nur zu oft mit Stress verbunden.

Dabei macht uns "mehr" gar nicht glücklicher. Warum schenken wir dieser Annahme immer noch Glauben?

Ehrlichkeit und Entschleunigung - unsere besten Früherkennungspsychiater

Wir befinden uns in einem der höheren Stresslevels: dem Rund-um-die-Uhr-Stress. Das ist das eine. Das andere ist, dass wir in diese Situationen oft hineinwachsen. Still und leise. Nicht wahrnehmbar, weil Stress zum einen etwas Überdeckendes hat und zum anderen noch mehr hereinlässt.

Und so sind wir plötzlich undicht und mittendrin. Der uns gut gesinnte, aber leider etwas schüchterne Körper meldet sich vielleicht erst hefig, wenn die Herzkranzgefässe zu eng oder die psychische Festplatte völlig zugemüllt sind. Nicht gut!

Gut ist, dass wir heute offener darüber sprechen. So lässt sich vieles bereits im Keim ersticken. Früherkennung spart wertvolle Kosten und führt schneller zur Genesung.

"Ich-genüge-mit-dem-was-ich-bin", "Ich-muss-nicht-alles-mitmachen" und ein Kalender mit "Tempomat" helfen ungemein, die Wartezimmer der Psychiater zu leeren.

Ab jetzt!

26.3.2025, Andreas Räber, Enneagramm Trainer Cp, Wetzikon