Ärzte und Karriere: Von 150 Prozent auf Teilzeit?

Ärzte und Karriere: Noch vor ein paar Jahren war es völlig klar, dass Ärzte 150 Prozent arbeiten. Doch der heutige Nachwuchs will vermehrt Teilzeit arbeiten. Man kann sich dem verwehren oder sich darauf einlassen. Der Tagesanzeiger greift im Artikel «Frau Doktor ist im Spital der Normalfall» diese Thematik auf.

Bedürfnisse verändern sich ständig. Unsere Gesellschaft hat in den letzten 30 Jahren ein völlig neues Gesicht erhalten. Zahlreiche Berufe sind verschwunden, neue sind entstanden. Die Digitalisierung hat Einzug in unsere Berufe und unser Privatleben genommen. Zugenommen hat auch der Wunsch nach Teilzeitarbeit. Reduzierter beruflicher Beschäftigung gehen heute 6 von 10 Frauen nach, bei den Männern sind es erst 1.8 von 10. Insbesondere im Gesundheitswesen sind die Möglichkeiten für Teilzeitarbeit immer noch reduziert. Arzt sein und Teilzeit arbeiten? Ist da Karriereplanung überhaupt möglich?

Die aktuelle Entwicklung (Personalmangel, Digitalisierung) öffnet Türen für eine Karriere mit mehr Individualität.

Ärztemangel ermöglicht Veränderung

Grundsätzlich sei heute fast niemand mehr gegen Teilzeitarbeit, stellt die Präsidentin des Verbands Zürcher Spitalärztinnen und Spitalärzte (VSAO), Jana Siroka, im Tagi-Artikel («Frau Doktor ist im Spital der Normalfall») fest. Der Ärztemangel spielt dieser Entwicklung in die Hand.

Die Chefs müssen die Frauen fördern, sonst laufen sie in ein massives Personalproblem hinein.

Vorteile von Teilzeitarbeit im Privatleben

Hinter jedem Arzt steht ein Mensch mit Bedürfnissen, wie wir sie alle haben. 150 Prozent in einem Beruf zu arbeiten, wo es um Leben und Tod geht, kann auf die Dauer nicht gut gehen. Im Tagi-Artikel wird eine Ärztin für Viszeralchirurgie porträtiert. Sie arbeitet 60 Prozent und hat immer am Mittwoch frei. Das war für sie wichtig, wegen der Kinder. Der Chef und die Kollegen seien ihr beim fixen freien Tag entgegengekommen, schreibt der Tagi.

Bereits ein fixer freier Tag kann die Lebensqualität von Mitarbeitenden massiv steigern.

Herausforderungen im Privatleben

Wer in der Pflege arbeitet, muss sehr flexibel sein, da unregelmässige Arbeitszeiten an der Tagesordnung sind.

Doch wie so oft haben wir mehr Möglichkeiten, Einfluss auf unsere Lebensgestaltung und Lebensqualität zu nehmen, als uns bewusst ist.

Die genannte Ärztin für Viszeralchirurgie empfiehlt, vor dem Kinderkriegen zuerst den Facharzttitel zu machen. Ebenso sei die Partnerwahl sehr wichtig. Denn der Partner muss ja die unregelmässige Arbeitszeit mittragen. Von teilzeitarbeitenden Ärzten wird verlangt, die Bedürfnisse der Klinik, der Kollegen und die eigenen unter einen Hut zu bringen. Das Fachgebiet im Spital muss schliesslich rund um die Uhr abgedeckt sein.

Vorteile von Teilzeitarbeit im Berufsleben

Wie Teilzeitarbeit in Pflege und Medizin eingeführt werden kann, steht und fällt mit einem klaren Konzept. Priorität hat der funktionierende und laufende Betrieb.

Bloss weil es bisher «nicht möglich» war, bedeutet dies nicht, dass es immer noch nicht geht.

Die Digitalisierung bietet hier eine Vielfalt an Möglichkeiten (siehe auch hospital-pool.ch, Personaleinsatzplanung einfach und flexibel organisiert)

Die Vorteile eines flexiblen Arbeitszeitmodells liegen zum Beispiel in der auf mehreren Schultern getragenen Verantwortung. Das erfordert eine klare und regelmässige Kommunikation.

  • Teilzeitarbeit ermöglicht mehr Erholung und kann Fehlentscheide verringern.
  • Fixe Freitage fördern die Motivation der Mitarbeiter und steigern die Chance auf eine langfristige Anstellung, was eine tiefere Personalfluktuation zur Folge hat.
  • Was wiederum eine bessere Kommunikation, mehr Teamentwicklung und gemeinsames Wachstum ermöglicht.

Daher sind Teilzeitmodelle und die Verteilung von Verantwortung durchaus angebracht, sofern es das Stellenprofil erlaubt und das Team bereit ist, sich gegenseitig zu unterstützen (gleiche Rechte für alle sind zwingend notwendig).

Herausforderungen im Berufsleben

Natürlich stellt sich hier noch die Frage nach einer lösbaren Dienstplanung.

Alle Bedürfnisse möglichst gut abzudecken, ist äusserst anspruchsvoll, aber machbar,

wird Stefan Breitenstein (50), Leiter des Departements Chirurgie am Kantonsspital Winterthur, vom Tagi zitiert. Die Abteilung Schilddrüsenchirurgie wird zum Beispiel von zwei Ärztinnen geleitet, die sich die Chefposition in diesem Spezialgebiet teilen.

Karriere als Teilzeitarbeitende ist also möglich.

Breitenstein und sein Team entwickeln Arbeitskonzepte, die auch für Frauen und Teilzeitarbeitende passen, sonst verlieren sie sehr viele Kandidatinnen.

Fazit: Veränderung braucht Willen und Zeit

Man kann Teilzeitarbeit abwehren und Karriereplanung ins alte Klischee drängen oder aber sich und den Mitarbeitenden neue Möglichkeiten erarbeiten. Gelingt es einer Gesundheitseinrichtung, solche neuen Möglichkeiten erfolgreich in ihren Auftrag zu integrieren, wird das Verdrängen für andere zum Bumerang. Die Möglichkeit zu Teilzeitarbeit ist eine wichtige Stütze in unserem Gesundheitswesen und sollte mittel- und langfristig angestrebt werden.

13.10.2020, Andreas Räber, GPI®-Coach, Wetzikon